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Rechtliches gehör


Ohne Hinweis unterlassene Einvernahme des (geladenen) Zeugen

BFH, Beschluss vom 04.04.2024 - V B 12/23 -

Streitgegenständlich war der Vorsteuerabzug aus einer Rechnung der N-GmbH. Hier wurde der Zeuge D. vom Finanzgericht (FG) zum Beweisthema „Dienstleistungen der N-GmbH an den Kläger im Zeitraum Januar 2016 bis einschließlich September 2016“ zur mündlichen Verhandlung geladen, erschien aber nicht. Der Kläger beantragte hilfsweise, den Zeugen erneut zu laden und zum Beweisthema zu vernehmen. Das FG wies die Klage ab. Die Beschwerde des Klägers führte zur Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das Finanzgericht.

 

Es läge ein Verfahrensmangel iSv. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor. Da das FG habe den Zeugen zur mündlichen Verhandlung geladen; wolle es von dessen Vernehmung dann absehen, müsse es die beteiligten vor Erlass des Urteils unmissverständlich darauf hinweisen. Würde dieser Hinweis unterbleiben, sei der Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt. Dies wurde vom BFH damit begründet, dass mit dem (förmlichen) Beweisbeschluss eine Verfahrenslage entstünde, auf welche die Beteiligten ihre Prozessführung einrichten dürften mit der Folge, dass sie davon ausgehen dürften, dass klein Urteil vor vollständiger Ausführung des Beweisbeschlusses ergehen würde. Wolle das Gericht von einer (weiteren) Beweisaufnahme absehen, müsse es daher vor Erlass des Urteils unmissverständlich zum Ausdruck bringen, dass es den Beweisbeschluss als erledigt betrachte.  Dies gelte auch dann, wenn kein Beweisbeschluss ergingen sei, aber ein Zeuge gem. § 79 Abs. 1 FGO S. 2 Nr. 6 FGO zum Termin geladen worden sei (wie im vorliegenden Verfahren). 

 

Der Hinweis sei nur entbehrlich, wenn das Gericht aufgrund besonderer objektiver Umstände ausnahmsweise davon ausgehen durfte, dass sich die Beweisaufnahme auch aus Sicht der Beteiligten zweifelsfrei erledigt habe, ohne dass es eines entsprechenden Hinweises bedürfte.

 

Bei Annahme einer Gehörsverletzung ergäbe sich der Verfahrensmangel, auf dem das Urteil nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO beruhen müsse, direkt aus § 119 Nr. 3 FGO. Selbst würde man § 119 Nr. 3 FGO nicht anwenden, würde das Urteil auf dem Verfahrensmangel beruhen, da dafür die vorliegend zu bejahende Möglichkeit ausreiche, dass die Entscheidung bei Erhebung des Beweises anders ausgefallen wäre (BFH, Beschluss vom 19.09.2014 - IX B 101/13 -). Dabei sei vom BFH berücksichtigt worden, dass das FG seine Entscheidung auch mit ernstlichen Zweifeln an der tatsächlichen Leistungserbringungen begründet habe und den Kläger als „feststellungsbelastet“ angesehen habe, weshalb bei einer Zeugenvernehmung eine anderweitige Beurteilung möglich gewesen sei.

 

 

Nicht zu entscheiden sei, ob darüber hinaus ein Verstoß gegen die Sachaufklärungspflicht vorlag.


Überraschungsentscheidung und fehlende Anwesenheit im Termin (Finanzgericht)

BFH, Beschluss vom 10.01.2024 - IX B 9/23 -

Im Streit war die Zurechnung von Einkünften aus Vermietung und Verpachtung. Die Klägerin behauptete, der Beigeladene habe die Vermietung (in dem in ihrem Eigentum stehenden Haus) als Eigengeschäft behandelt, demgegenüber das Finanzamt (FA) die Einkünfte der Klägerin zurechnete. Zu dem vom Finanzgericht anberaumten Termin erschien die Klägerin nicht (was bei einem Verfahren vor dem Finanzgericht für die Beteiligten grundsätzlich nicht notwendig ist). Die Klage wurde vom Finanzgericht (FG)als unbegründet abgewiesen. Zwar habe der Beigeladene bei Abschluss und Durchführung der Mietverträge im eigenen Namen gehandelt, doch seien die Einkünfte ihr aus einem Treuhandverhältnis zuzurechnen. Diese Annahme sei gerechtfertigt, da die Klägerin die Einnahmen aus Vermietung und Verpachtung über Jahre erklärt habe und erstmals im Streitjahr in Abrede gestellt habe.

 

Die gegen das Urteil eingelegte Beschwerde zum BFH hatte Erfolg und führte zur Zurückweisung an das Finanzgericht. Der BFH sah in dem Urteil eine Überraschungsentscheidung, weshalb der Anspruch der Klägerin auf rechtliches Gehör verletzt worden sei.

 

 Eine Überraschungsentscheidung läge vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten oder bekannt rechtlichen Gesichtspunkt stütze und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gebe, mit der ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretener Auffassungen nicht rechnen müsse. Dies sei insbesondere der Fall, wenn der entscheidungserhebliche Umstand erst im Endurteil benannt würde (BFH, Beschluss vom 23.02.2017 - IX B 2/17 -). Zwar müsse ein (wie hier gar durch einen Steuerberater sachkundig vertretener) Verfahrensbeteiligter alle vertretbaren rechtlichen Gesichtspunkte in Betracht ziehen und seinen Vortrag darauf einstellen, auch wenn die Rechtsalge umstritten oder problematisch sei (BVerfG, Beschluss vom 19.05.1992 –-1 BvR 986/91 -). Allerdings müsse er nicht damit rechnen, dass seine Klage aus einem Grund abgewiesen würde, der weder die Beteiligten noch das Gericht zuvor in das Verfahren eingeführt hätten.

 

Zudem müsse das FG im Falle des Ausbleibens eines Beteiligten nach pflichtgemäßen Ermessen prüfen, ob es gleichwohl in der Sache entscheidet oder den Termin vertagt. Im Rahmen dessen sei es verpflichtet zu vertagen, wenn die Entscheidung aufgrund tatsächlicher oder rechtlicher Gesichtspunkte erfolgen könnte, zu denen den Beteiligten bisher kein rechtliches Gehör gewährt wurde (BFH, Beschluss vom 19.05.2020 - VII B 114/19 -).

 

Vorliegend habe das FG den Gesichtspunkt des Treuhandverhältnisses erstmals im Urteil in das Verfahren eingeführt. Vorher sei dies weder im Veranlagungs- noch im Einspruchsverfahren und auch nicht in wechselseitigen Schriftsätzen im Verfahren angesprochen worden. Ebenso lässt sich aus dem Protokoll der Verhandlung nicht ersehen, dass ein Hinweis erfolgt wäre.

 

Da in der Nichtteilnahme an der mündlichen Verhandlung kein Verzicht auf die Einhaltung von Verfahrensvorschriften iSv. § 295 ZPO iVm. § 155 FGO läge, habe die Klägerin ihr Rügerecht nicht durch Unterlassen einer rechtzeitigen Rüge beim FG verloren. Denn auch wenn die Klägerin an der Verhandlung teilgenommen hätte, hätte sie erst aus dem Urteil erfahren, dass sich das FG auf einen bisher nicht erörterten Gesichtspunkt stützt. 

 

Das FG würde nun unter Berücksichtigung des Vortrags der Parteien zu prüfen haben, ob und in welchem Umfang das von ihm angenommene Treuhandverhältnis den Anforderungen der Rechtsprechung (so BFH, Urteil vom 12.07.2016 – IX R 21/15 -) sowie den Anforderungen an Verträgen zwischen Angehörigen (§ 15 Abs. 2 Nr. 1 AO) entspreche.


Verwertung gerichtsbekannter Tatsachen oder aus nicht vorher benannten Vorprozessen

BGH, Beschluss vom 29.11.2023 - XII ZR 36/23 -

Die Beklagten hatten von der Klägerin Räume zum Betrieb eines Shisha-Cafés angemietet (Mietvertrag vom 06.09.2018). Die Beklagten erklärten am 10.09.2018 nach Abschluss des Mietvertrages mit anwaltlichen Schreiben die Anfechtung des Mietvertrags. Die Klägerin kündigte mit Schreiben vom 24.10.2018 das Mietverhältnis wegen Zahlungsverzugs fristlos und forderte die Beklagten zur Räumung und Herausgabe der Schlüssel auf; zu einer Schlüsselrückgabe kam es nicht. Mit rechtskräftigen Urteil des Landgerichts vom 20.04.2020 stellte dieses fest, dass die Anfechtung des Mietvertrages durch die Beklagten wegen arglistiger Täuschung wirksam gewesen sei.

 

Mit ihrer Klage in 2021 forderte die Klägerin die Zahlung eines Betrages, der der Miete für den Zeitraum Oktober 2018 bis Juni 2019 entsprach. Die Klage wurde vom Landgericht abgewiesen. Das Oberlandesgericht erhob im Rahmen der von der Klägerin eingelegten Berufung Beweis zu der beklagtenseits behaupteten versuchten Schlüsselübergabe und wies sodann die Berufung zurück. Dagegen legte die Klägerin Nichtzulassungsbeschwerde ein, mit der sie die Zulassung der Revision begehrte.

 

Der BGH beschloss nach § 544 Abs. 9 ZPO die Revision zuzulassen und hob gleichzeitig die Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung des Rechtstreits an das OLG. Nach § 544 Abs. 9 ZPO kann der BGH verfahren, wenn das Berufungsgericht den Anspruch des Beschwerdeführers in rechtserheblicher Weise verletzt hat.

 

Diese Verletzung des rechtlichen Gehörs nahm der BGH an:

 

Das OLG habe zwar festgesellt, dass die Beklagten mir ihrer Rückgebeverpflichtung in Verzug gekommen seien, da sie die Schlüssel nicht zurückgegeben hätten. Auch könne ein verzugsbedingter kausaler Schaden der Klägerin dadurch entstanden sein, da sie als Zwischenmieterin weiter zur Zahlung der Miete an die Vermieterin verpflichtet gewesen sei. Aber die Klägerin habe nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme endgültig in einem Telefonat mit dem Zeugen F. die die angebotene Rückgabe der Schlüssel abgelehnt. Der Zeuge F. habe auch als vertretungsberechtigt für die Klägerin angesehen werden können (wenn er auch nicht Geschäftsführer gewesen sei), da er der maßgebliche Gesprächspartner auf Seiten der Klägerin gewesen sei, wie sich aus dem Vorprozess ergebe.

 

Art. 103 Abs. 1 GG gewähre den Parteien ein Recht darauf, dass sie Gelegenheit erhalten müssten, im Prozess zu Wort zu kommen und das nur die Tatsachen und Beweismittel verwertet werden. zu denen auch Stellung bezogen werden könne. Indem das OLG unter Bezugnahme auf den Vorprozess feststellte, der Zeuge F. sei maßgeblicher Ansprechpartner auf Seiten der Klägerin, ohne der Klägerin zuvor die Möglichkeit im anhängenden Verfahren zu geben, dazu Stellung zu nehmen, sei dieses Recht verletzt worden. So seien hier im Verfahren weder das im Vorprozess ergangene Urteil noch andere Schriftstücke aus diesem Verfahren vorgelegt worden, noch sei die Beiziehung der Akte des Vorprozesses angeregt oder beantragt worden. Selbst wenn es sich um eine gerichtskundige Tatsache gehandelt haben sollte, dürfe ein Gericht wegen Art. 103 Abs. 1 GG diese Tatsache nicht seiner Entscheidung zugrunde legen, ohne den Parteien Gelegenheit zur Stellungnahme zu gewähren (BVerfG, Beschluss vom 17.09.2020 - 2 BvR 1605/26 -).

 

 

Für die prozessuale Folge der Aufhebung des Urteils und Zurückverweisung ist neben der Verletzung des rechtlichen Gehörs auch erforderlich, dass das Urteil darauf beruht. Dies bejahte der BGH, da nicht ausgeschlossen werden könne, dass bei Vermeidung dieses Verstoßes ein Schadensersatzanspruch der Klägerin wegen Verzugs gem. §§ 280 Abs. 1 und 2m 286 BGB bejaht und der Klage damit stattgegeben worden wäre. 


Verfahrensrechtliche Durchführung der Videoverhandlung bei einem präsenten Beteiligten

BFH, Beschluss vom 18.08.2023 - IX B 104/22 -

Seit einigen Jahren sehen die Prozessordnungen schon die Möglichkeit vor, dass die Gerichte Verfahrensbeteiligten erlauben können, an Verhandlungen per Videoübertragung teilzunehmen. Diese Möglichkeit wird seit Corona immer häufiger angewandt. Doch nicht nur die Aufrüstung der Gerichte lässt noch Wünsche offen. Auch hier sind rechtstaatliche Grundsätze zu beachten, sowohl im Hinblick auf den per Video zugeschalteten Teilnehmer der Verhandlung, wie der im Gericht präsenten Beteiligten. Der vorliegende Fall zeigt, dass nicht nur die Übertragung als solche zur Gewährung des rechtlichen Gehörs bei Zulassung der Beteiligung per Video gewährleistet sein muss.

 

Die Klägerin, die Akteneinsicht begehrte und diesbezüglich vor dem Finanzgericht (FG) Klage erhob, nahm an dem vom FG anberaumten Verhandlungstermin vor Ort (in der Person ihres Geschäftsführers) im Gerichtssaal teil. Dem Vertreter des Finanzamtes (FA) war auf Antrag gestattet worden, aus dem Dienstgebäude des FA heraus mittels Videokonferenz an der Verhandlung teilzunehmen, § 91a Abs. 1 S. 1 FGO. Die Klage wurde abgewiesen. Mit der dagegen eingelegten Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision machte die Klägerin u.a. als Verfahrensfehler geltend, dass während der Videoverhandlung das Bild des FA nicht vor ihr auf einem Bildschirm erschien, sondern nur hinter ihr an die Wand projiziert worden sei. Daher habe sich der Geschäftsführer umsehen müssen und so abwechselnd zwischen Richterbank und dem FA wechseln müssen. Das sei unzulässig, da so nicht die Möglichkeit bestanden habe, die Mimik und Gestik aller Teilnehmer der mündlichen Verhandlung zu erfassen. Auch habe der Geschäftsführer einem Redebeitrag des FA erst nach Körperdrehung folgen können, wenn dieser bereits begonnen habe. Das FA wandte u.a. ein, der Geschäftsführer habe die benannten Umstände während der Verhandlung nicht gerügt.

 

Der BFH gab der Beschwerde statt. Er sah hier eine Verletzung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG), weshalb er das Urteil des FG aufhob und den Rechtsstreit dorthin zurückverwies.

 

Rechtliches Gehör werde u.a. durch die Teilnahme an der mündlichen Verhandlung gewährt; Art. 103 Abs. 1 GG setze voraus, dass sich die Verfahrensbeteiligten bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt über den gesamten Verfahrensstoff informieren können (BVerfG, Beschluss vom 08.06.1993 – 1 BvR 878/90 -).  Das Gericht könne den Beteiligten auf Antrag die Teilnahme in Form der „Videoübertragungstechnik“ erlauben, die „ohne Verlust an rechtsstaatlicher Qualität“ genutzt werden dürfe (BT-Drucks. 17/112, S. 10). Das Geschehen müsse vollständig übermittelt werden (dürfe sich also nicht auf einzelne Beteiligte beschränken) und jeder Beteiligte müsse zeitgleich die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können.

 

Zur Verletzung des rechtlichen Gehörs bei Videoübertragungen stellte der BFH fest: Jeder Beteiligte müsse zeitgleich die Richterbank du die anderen Beteiligten visuell und akustisch wahrnehmen können. Daran ermangele es, wenn ein anwesender Beteiligter einen zugeschalteten Beteiligten nur sehen könne, wenn er sich selbst um 180° wenden würde. Dem Geschäftsführer sei es ohne sich entsprechend zu wenden nicht möglich gewesen, den Vertreter des FA bzw. die Richterbank zu sehen; ein zeitgleiches Sehen sei ausgeschlossen gewesen. Damit könnten ihm Einzelheiten, wie Mimik und Gestik, entgehen und - anders als im Rahmen einer Verhandlung in Anwesenheit aller Beteiligter – mögliche nonverbale Kommunikationen zwischen einem Beteiligten und der Richterbank entgehen. Selbst wenn im Regelfall die Beteiligten (Kläger / Beklagte) bei Präsenzverhandlungen nebeneinander sitzen würden, würden sie doch aus den Augenwinkeln eine entsprechende nonverbale Kommunikation mitbekommen können. Auch bestünde durch das widerholte Hin- und herschauen die Gefahr, dass der Geschäftsführer abgelenkt würde und deshalb seine Konzentration auf den Prozessstoff beeinträchtigt würde.

 

Auch wenn das Finanzgericht in Abwesenheit eines Beteiligten verhandeln und entscheiden könne (§ 91 Abs. 2 FGO), würde der per Videoverhandlung Beteiligte nicht abwesend sein und müsse daher der andere Beteiligte in der Lage sein, dessen verbalen und nonverbalen Äußerungen umfassend wahrzunehmen.

 

Die Klägerin sei mit ihrer Rüge auch nicht ausgeschlossen. Zwar würde grundsätzlich das Rügerecht gem. § 295 Abs. 1 ZPO iVm. § 155 S. 1 FGO verlorengehen, wenn ein verzichtbares Verfahrensrecht betroffen sei, wobei für den Verlust ausreichend sei, wenn eine rechtzeitige Rüge unterlassen würde. Allerdings würde dies nur in den Fällen angenommen, in denen der Kläger rechtskundig vertreten würde (BFH, Beschluss vom 29.10.2004 – XI B 213/02 -). Im finanzgerichtlichen Verfahren sei die Klägerin nicht rechtskundig vertreten gewesen. Zudem sei bei einer Parallelwertung in der Laiensphäre ein Verfahrensmangel im Hinblick auf den Rahmen der Videoverhandlung nicht ohne weiteres erkennbar.


Unterlassene Sachverständigenbegutachtung für Frage der Gleichwertigkeit von Ersatzräumen

BGH, Beschluss vom 26.04.2023 - XII ZR 83/22 -

Nachdem ein Mietvertrag nicht durchgeführt werden konnte, stritten die Parteien um die Mehrkosten einer Ersatzimmobilie, die die Mieterin (Klägerin) gegenüber dem mit der Vermieterin (Beklagte) vereinbarten Mietzins aufbringen musste. Hintergrund war die Anmietung von noch vom Vermieter herzustellenden Gewerberäumen in W. (383 qm in einem zur Sanierung vorgesehenen alten Wasserwerk) nebst zwei Pkw-Stellplätzen). Die auf fünf Jahre befristete Mietzeit sollte am 01.07.2019 beginnen, der Mietzins netto € 4.215,59/Monat (entspricht € 10,99/qm) zuzüglich € 70,00 für die Stellplätze betragen. Der Beklagten gelang die Finanzierung nicht. Im Februar 2019 mietete die Beklagte im Hafenviertel von D. gelegene Räumlichkeiten (454 qm) an, und zwar zu € 12,00/qm, wobei ein Teilbetrag davon Entgelt für eine ca. 279 qm große Gemeinschaftsfläche war, zuzüglich € 200,00 für vier Tiefgaragenstellplätze. Mietbeginn war der 01.10.2019, die Mietzeit auf fünf Jahre beschränkt. Am 30.07.2019 erklärte die Beklagte mit der Begründung der Nichtgewährung des vertragsgemäßen Gebrauchs die fristlose Kündigung des Mietvertrages mit der Beklagten und machte Schadenersatzansprüche u.a. in Höhe von € 410,41/Monat für fünf Jahre im Hinblick auf die Mietdifferenz zwischen dem nunmehr angemieteten Objekt und dem von der Beklagten vermieteten Objekt geltend (§ 259 ZPO). Das Landgericht gab der Klage statt. Die Berufung der Beklagten war erfolgreich; das Oberlandesgericht (OLG) hob das Urteil auf und wies die Klage ab. Das OLG negierte die Gleichwertigkeit (bei Annahme eines höheren Gebrauchs- und Nutzwertes der Immobilie in D.) der Mieträume, ohne einen diesbezüglich Sachverständigenbeweis der Klägerin zu erheben. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Beklagten führte zur Aufhebung des Urteils des OLG und Zurückverweisung an dieses (§ 544 Abs. 2 9 ZPO).

 

Der BGH sah die Voraussetzungen für die Zulassung einer Revision als gegeben an, da dies gem. § 543 Abs. 2 S. 1 Nr. 2 Alt. 2 ZPO zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung geboten sei. Es läge ein Verstoß gegen Art. 103 GG (Verletzung  rechtlichen Gehörs) vor, da das OLG nicht den beklagtenseits angebotenen Sachverständigenbeweis erhoben habe. Nach Art. 103 Abs. 1 GG habe das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und zu erwägen. Danach gebiete Art. 103 Abs. 1 GG in Verbindung mit den Grundsätzen der Zivilprozessordnung auch die Berücksichtigung erheblicher Beweisanträge. Deren Nichtberücksichtigung verstoße, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze fände, gegen Art. 103 GG (BGH, Beschluss vom 10.03.2021 - XII ZR 54/20 -). Dies gelte insbesondere auch dann, wenn der Beweisantrag wegen einer bereits gewonnenen Überzeugung kein Gewicht mehr beimesse (BGH, Beschluss vom 10.03.2021 - XII ZR 54/20 -).

 

Die Klägerin hatte den Antrag auf Einholung eines Sachverständigengutachtens zum Beweis der Tatsache gestellt, dass die ursprünglich in W. angemieteten Gewerberäume nach Art und Lage gleichwertig mit den in D. gemieteten Gewerberäume sind; sie habe das Übergehen dieses Beweisangebots durch das OLG im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde gerügt. Dieses Übergehen fände, so der BGH, in der Prozessordnung keine Stütze.

 

Das Gericht dürfe von der Einholung eines beantragten Sachverständigengutachtens zu entscheidungserheblichen Parteivortrag nur absehen, wenn es selbst über die notwendige Sachkunde zur Beurteilung des Wahrheitsgehalts der unter Beweis gestellten Behauptung verfüge (z.B. BGH, Beschluss vom 09.01.2018 - VI ZR 106/17 -; ständige Rechtsprechung); diese liegen Sachkunde sei in der Entscheidung darzulegen (z.B. BGH, Beschluss vom 12.05.2021 - XII ZR 153/19 - ständige Rechtsprechung). Dem habe das OLG nicht Rechnung getragen und den angebotenen Sachverständigenbeweis erheben müssen, statt eine eigene Wertung vorzunehmen.

 

Der Mieter, dem die angemieteten Räume nicht zur Verfügung gestellt werden, könne in diesem Fall zur Anmietung von Ersatzräumen berechtigt sein und gegebenenfalls Mehrkosten als Schadensersatz beim Vermieter geltend machen (BGH, Urteil vom 02.11.2016 - XII ZR 153/15 -). Voraussetzung sei, dass der Mieter die Vertragsverletzung des Vermieters berechtigterweise zum Anlass nähme, den Umständen nach angemessene neue Räume anzumieten (BGH aaO.). Vorliegend habe die Klägerin bereits in der Klageschrift die Einholung eines Sachverständigengutachtens dazu beantragt, dass die angemieteten Gewerberäume und das Ersatzobjekt nach Art und Lage gleichwertig seien. Dieser Beweisantrag sei erheblich, da die behauptete Gleichwertigkeit der Räumlichkeiten in D. und W. für die Beurteilung der Angemessenheit der Ersatzräume von Bedeutung sei.

 

Ohne den Beweisantrag der Klägerin anzusprechen und eine eigene Sachkunde für die Bewertung der Räumlichkeiten darzulegen, habe das OLG den höheren Mietzins der Gewerberäume in D. auf deren höheren Nutz- und Gebrauchswert zurückgeführt. Dies aber käme einer vorweggenommen Beweiswürdigung gleich, die dem Prozessrecht fremd sei.

 

Bei dem unter Sachverständigenbeweis gestellten Vortrag der Klägerin handele es sich um eine dem Beweis zugängliche Tatsachenfrage. Die Frage der Gleichwertigkeit sei zwar von einer Wertung abhängig, die aber an beweisbare Eigenschaften der Mieträumlichkeiten sowie Bedürfnisse und Wertvorstellungen der maßgeblichen Verkehrskreise, mithin innere und äußere Tatsachen, anknüpfe. Es bedürfe daher regelmäßig zur Ermittlung einer Gebrauchswertdifferenz der Einholung eines Sachverständigengutachtens (BGH, Urteil vom 29.03.2017 - VIII ZR 44/16 -:

„Insbesondere hat das Berufungsgericht nicht berücksichtigt, dass die Feststellung eines streitigen Mietdifferenzschadens nach unberechtigter Wohnungskündigung regelmäßig nur mittels eines Gutachtens eines mit dem örtlichen Mietmarkt vertrauten Sachverständigen möglich sein wird und dieser die erforderlichen (wertenden) Feststellungen zum Wohnwert üblicherweise nach einer Besichtigung zumindest der neuen Wohnung trifft. Es stellte daher eine Überspannung der Substantiierungsanforderungen dar, von der Partei vorab konkrete Darlegungen zur Vergleichbarkeit der Wohnwerte zu verlangen und die Durchführung einer Beweisaufnahme davon abhängig zu machen.“).

 

Für die Bewertung von Gewerbeimmobilien bedürfe es regelmäßig besonderer Erfahrungen und Kenntnisse über ortsbezogene und wirtschaftliche Begleitumstände sowie die Interessen der am Wirtschaftsleben beteiligten Verkehrskreise, die sich nicht aus einer allgemeinen Lebenserfahrung ergäben und die auch nicht bei den an der Berufungsentscheidung beteiligten Richtern aufgrund ihrer richterlichen Tätigkeit zu unterstellen sei. Eine unterschiedliche Wertigkeit, die evtl. eine Mietdifferenz gerechtfertigt hätte, ergäbe sich nicht bereits aus der Lage der Immobilien und von (vom LG angesprochenen) Nutzungsvorteilen der Ersatzimmobilie. Der Gebrauchswert, auf den es entscheidend ankäme, ergäbe sich aus einer Gesamtschau einer Vielzahl von Faktoren von gegebenenfalls unterschiedlichen Gewicht. Eine einzelne Eigenschaft von Räumlichkeiten (z.B. eine besonders hervorstechendes, einzigartiges Erscheinungsbild) könne den Wert anderer Eigenschaften auf- oder überwiegen und daher den Gebrauchswert maßgeblich bestimmen. Die für de Entscheidung erforderliche Vergleichsbetrachtung könne sich daher nicht in einer Gegenüberstellung einzelner wertbildender Eigenschaften erschöpfen.


Verletzung rechtlichen Gehörs bei fehlender Auseinandersetzung mit  privatgutachtlich gestützten Vortrag

BGH, Beschluss 28.03.2023 - VI ZR 29/21 -

Die Klägerin machte aus nach § 86 VVG die auf sie übergegangenen Schadensersatzansprüche im Zusammenhang mit einem Brandschaden gegen die beklagte Herstellerin einer Geschirrspülmaschine geltend, die nach der Behauptung der Klägerin ursächlich für den Brand gewesen sein soll. Die Klage und die Berufung gegen das klageabweisende Urteil wurden zurückgewiesen. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BGH das Berufungsurteil des OLG auf und verwies den Rechtsstreit an dieses zurück.

 

Die Aufhebung und Zurückverwesung erfolgte, da sich das OLG als Berufungsgericht nach Auffassung des BGH mit dem wesentlichen Vortrag der Klägerin zum konkreten Brandherd hinter einem Bedientableau der Geschirrspülmaschine sowie zum Ausschluss anderweitiger Brandursachen nicht auseinandergesetzt und dadurch die Klägerin in entscheidungserheblicher Weise in ihrem Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (Art. 103 GG) verletzt habe. Das Gebot des rechtlichen Gehörs verpflichte Gerichte dazu, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in ihre Erwägungen einzubeziehen. Zwar müsse sich das Gericht nicht mit jedem von einer Partei vorgebrachten Gesichtspunkt auseinandersetzen (vgl. auch § 313 Abs. 2 ZPO), doch müsse es auf den Kern der Tatsachenvortrages einer Partei eingehen, der für das Verfahren von zentraler Bedeutung sei (BVerfG, Beschluss vom 25.09.2020 - 2 BvR 854/20 -), was sich aus den Entscheidungsgründen erkennen lassen müsse (BGH, Beschluss vom 13.01.2015 - VI ZR 204/14 -).

 

Zwar habe das OLG im Tatbestand seines Urteils die Einwendungen der Klägerin umfassend aufgeführt, allerdings ließen die Entscheidungsgründe eine Auseinandersetzung mit den Argumenten der Klägerin nicht erkennen.

 

Soweit das OLG darauf hingewiesen habe, dass die elektrische Anlage nicht untersucht worden sei, fehle es an einer Auseinandersetzung mit dem auf dem Privatgutachten gestützten Vortrag der Klägerin, wonach die Ursächlichkeit der „elektrischen Anlage“ bzw. der „Elektroinstallation“ bereits aufgrund der zur Verfügung stehenden Bilder des Brandortes, der Auskunft des Netzbetreibers bzw. der im Einzelnen ausgeführten technischen Erwägungen ausgeschlossen werden könne.

 

Gestützt auf das Privatgutachten hatte die Klägerin im Einzelnen u.a. vorgetragen, dass sich das Feuer ausgehend von der hinter dem Bedienfeld befindlichen Platine nach oben entwickelt habe und dass im unmittelbaren Brandumfeld neben der Geschirrspülmaschine keine weitere Brandursache in Betracht käme. Das Brandbild, welches sich entwickelt habe, könne nur von der bis zum Bedientableau unter Spannung gestandenen Geschirrspülmaschine entwickelt worden sein und nur aufgrund eines technischen Defekts eines elektronischen Bauteils derselben entstanden sein, da andere Zündquellen nicht ersichtlich seien. Auch habe es nach (vorgelegter) Auskunft des Netzbetreibers keine Überspannung gegeben.

 

Die Erwägung des OLG, die Geschirrspülmaschine sei mittlerweile  entsorgt worden und könne nicht mehr begutachtet werden, weshalb sich die Brandursache nicht mehr feststellen lasse, stelle sich auch nicht als Auseinandersetzung mit dem Vortrag der Klägerin dar, die unter Zugrundlegung des Privatgutachtens darauf hinwies dass mit den Lichtbildern des Brandortes und den – von den Zeugen bekundeten – Erkenntnissen vor Ort ausreichend Indizien für die Brandursächlichkeit eines Produktfehlers bestünden.

 

Eine Gehörsverletzung muss, damit die Rüge Erfolg hat, entscheidungserheblich sein. Das bejahte der BGH vorliegend, da nicht auszuschließen sei, dass das OLG bei gebotener Auseinandersetzung mit dem privatsachverständig gestützten Vortrag der Klägerin zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre. 

 

Der BGH wies das OLG für das weitere Verfahren darauf hin, dass der Geschädigte nur beweisen müsse, dass ein Schaden im Organisations- und Gefahrenbereich des Herstellers durch einen objektiven Mangel oder Zustand der Verkehrswidrigkeit ausgelöst sei. Nicht aufklären müsse der Geschädigte, ob der Produktfehler auf eine von dem Hersteller zu verantwortende Verletzung der Sorgfaltspflicht zurückzuführen sei und auf welche Weise die (etwaige) Pflichtverletzung zur Fehlerentstehung geführt habe (BGH, Urteil vom 30.04.1991 - VI ZR 178/90 -). Würden nach dem Ergebnis einer Beweisaufnahme alle verbleibenden möglichen Ursachen erwiesenermaßen aus dem Verantwortungsbereich des Herstellers stammen, sei ein Produktfehler nachgewiesen. Dabei käme es nicht darauf an, ob es sich um einen Konstruktions- oder Fabrikationsfehler handele (BGH, Urteil vom 24.11.1976 -VIII ZR 137/75 -).  Der Umstand, dass der angeblich produktfehlerhafte Gegenstand nicht mehr vorhanden sei, schließe den Beweis eines Produktfehlers nicht grundsätzlich aus. 


Weitere (zweite) Anhörungsrüge ist als unzulässig zu verwerfen

BAG, Beschluss vom 21.03.2023 - 6 AZN 56/23 (F) -

Die Berufung des Klägers gegen ein Urteil eines Arbeitsgerichts wurde vom Landesarbeitsgericht als unzulässig verworfen. Das Landesarbeitsgericht hatte die Revision nicht zugelassen. Hiergegen wurde vom Kläger Nichtzulassungsbeschwerde (§ 72a ArbGG) zum Bundesarbeitsgericht (BAG) eingelegt. Diese wurde vom BAG nicht angenommen. Gemäß § 78a ArbGG erhob der Kläger Anhörungsrüge, die vom BAG zurückgewiesen wurde. Gegen den Zurückweisungsbeschluss erhob der Kläger ebenfalls Anhörungsrüge; diese wurde vom BAG als unzulässig zurückgewiesen.

 

Die Anhörungsrüge gem. § 78a ArbGG entspricht der Anhörungsrüge nach § 321a ZPO und nach § 178a SGG, 152a VwGO, 133a FGO. Das BAG zeigte die Grenzen der Anhörungsrüge auf, die sich auch aus Sinn und Zweck der Normen erklärt. Sie kann von dem Rechtssuchenden erhoben werden, wenn gegen eine Entscheidung eines Gerichts kein ordentliches Rechtsmittel mehr möglich ist und r der Ansicht ist, die Entscheidung beruht auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs (so dem Übergehen von Vortrag und/oder Beweisangeboten).

 

Vom BAG wurde ausgeführt, dass die weitere Anhörungsrüge unzulässig sei, da ein erneuter Rechtsbehelf gegen einen Beschluss, mit dem eine Anhörungsrüge als unzulässig verworfen bzw. als unbegründet zurückgewiesen wurde, unanfechtbar sei und von daher die Unanfechtbarkeit dieses Beschlusses gem. § 78a Abs. 4 S. 4 ArbGG der erneuten Rüge entgegenstehen würde (BAG, Beschluss vom 19.11.2014 - 10 AZN 618/14 (A); entsprechend zu § 321a Abs. 4 S. 4 ZPO BGH Beschluss vom 02.03.2015 - V ZR 219/13 -). Dies sei auch vom Bundesverfassungsgericht so gesehen worden (BVerfG, Beschluss vom 26.04.2011 - 2 BvR 597/11 -).

 

Das gelte auch dann, wenn die (erste) Anhörungsrüge wegen Fristversäumnis (es gilt hier eine Notfrist von zwei Wochen, die mit Kenntnis [Zustellung] der Entscheidung, zu der die Anhörungsrüge erhoben wird) zurückgewiesen worden sei und damit keine inhaltliche Entscheidung getroffen wurde.

 

§ 78a ArbGG (und entsprechendes gilt auch für § 321a ZPO) trage dem Rechtsstaatsprinzip Rechnung, demzufolge dem Rechtssuchenden die Möglichkeit gewährt werden müsse, eine behauptete Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das Gericht (also eine Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG) einer einmaligen gerichtlichen Kontrolle zu unterziehen. Käme dies nicht zum Tragen, da es dem Rechtssuchenden nicht gelinge, die gesetzlich vorgeschriebene Formalien einzuhalten, sei das vom Gesetzgeber eröffnete Mindestmaß an Rechtsschutz gewahrt und trete nunmehr das auch im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Rechtssicherheit in den Vordergrund (BVerfG, Beschluss vom 30.04.2003 - 1 PBvU 1/02 -). 

 

Der Beschluss des BVerfG vom 30.04.2003 war Auslöser für die Einfügung der §§ 321a ZPO und 78a ArbGG, da das BVerfG - wohl in Ansehung der Flut von Verfassungsbeschwerden wegen Verletzung rechtlichen Gehörs durch die Fachgerichte - darauf verwies, dass das Rechtsstaatsprinzip in Verbindung mit dem Grundsatz des rechtlichen Gehörs die Möglichkeit fachgerichtlicher Abhilfe im Falle der Verletzung rechtlichen Gehörs fordere und insoweit dem Gesetzgeber eine Frist setzte, dies zu schaffen. Nimmt mithin der Rechtssuchende an, eine Entscheidung eines Gerichts beruhe auf der Verletzung rechtlichen Gehörs, ist nach den nunmehr in den einschlägigen Gesetzen geregelten Gehörsrüge der Rechtssuchende gehalten, eine Anhörungsrüge zu erheben, in der er unter Einhaltung der Frist darlegen muss, worin die Verletzung rechtlichen Gehörs liegt und welche Auswirkungen diese angenommene Verletzung auf den Ausgang des Prozesses hat. Eine Verfassungsbeschwerde wegen der Verletzung rechtlichen Gehörs ist demgegenüber subsidiär, kann also nur erhoben werden, wenn zuvor (erfolglos) die Anhörungsrüge erhoben wurde. Wird der Anhörungsrüge vom Fachgericht nicht stattgegeben, gleich aus welchen Gründen, ist damit auch dann eine weitere Anhörungsrüge ausgeschlossen, wenn das Fachgericht tatsächlich auch bei dieser das rechtliche Gehör verletzt haben würde (was aber dann nicht der Fall wäre, wenn die Anhörungsrüge nicht Frist- und Formgericht erhoben wurde du deshalb zurückgewiesen wurde). Auch weiterhin ist mithin eine Verfassungsbeschwerde gegen eine nicht rechtmittelfähige Entscheidung eines Fachgerichts möglich (§ 13 Nr. 8a BVerfGG iVm. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG). Wird also im Rahmen der Anhörungsrüge durch das Fachgericht dem Erfordernis des rechtlichen Gehörs nicht entsprochen oder beruht die Zurückweisung der Anhörungsrüge als unbegründet (neuerlich) auf einer Verletzung rechtlichen Gehörs, ist nunmehr grundsätzlich für den Rechtssuchenden die Verfassungsbeschwerde eröffnet. 


Unzulässige eigene Würdigung zur Arbeitsunfähigkeit bei Vorlage ärztlicher Bescheinigung

BGH, Beschluss vom 12.03.2023 - VI ZR 283/21 -

Vorliegend ging es um Schadensersatzansprüche der klagenden Dienstherrin  aus einem Verkehrsunfall, den diese durch Fortzahlung von Bezügen und Versorgungsleistungen an den Geschädigten (städtischer Feuerwehrbeamter) erlitten haben will. Das OLG hatte im Berufungsverfahren statt der für einen Zeitraum vom 01.04.2011 bis 31.12.2016 geltend gemachten Bezüge nur solche für einen Zeitraum vom 01.04.2011 bis 31.08.2012 zuerkannt. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hatte insoweit Erfolg und führte dazu, dass das Urteil des OLG aufgehoben und das Verfahren an dieses zurückverwiesen wurde.

 

Das OLG habe seine teilweise Klageabweisung darauf gestützt, dass der Geschädigte gegen seine Obliegenheit zur Schadensminderung (§ 254 Abs. 2 BGB) verstoßen habe (was relevant wäre, da ein Mitverschulden des Beschäftigten im Regress des Arbeitgebers zu Lasten des Arbeitgebers zu berücksichtigen wäre, vgl. z.B. § 6 Abs. 2 EntgFG). Voraussetzung für eine Kürzung der Schadensersatzansprüche des Geschädigten wegen unzureichender Anstrengungen zur Aufnahme einer erneuten Erwerbstätigkeit sei zunächst die Feststellung, dass der Geschädigte nach der Verletzung noch oder wieder arbeitsfähig sei. Diesbezüglich sei der Schädiger darlegungs- und beweisbelastet. Erst im zweiten Schritt, soweit die Frage der Möglichkeit des Einsatzes der festgestellten verbliebenen Arbeitskraft in Rede stünde, treffe den Geschädigten (bzw. bei auf den Arbeitgeber/Dienstherrn übergegangenen Ansprüchen diesen) die sekundäre Darlegungslast. Der Geschädigte habe sei er wieder (teil-) arbeitsfähig in der Regel den Schädiger über die für ihn zumutbaren Arbeitsmöglichkeiten ebenso wie zu seinen Bemühungen, einen angemessenen Arbeitsplatz zu finden, zu informieren.

 

Vorliegend habe das OLG aus einer Bescheinigung des Hausarztes des Geschädigten sowie einem Befundbericht der den Geschädigten behandelnden Psychotherapeutin zwar die dort benannten gesundheitlichen Beeinträchtigungen als gegeben unterstellt, allerdings nicht die auf diesen Diagnosen beruhende Einschätzung der behandelnden Ärzte zur Arbeitsfähigkeit des Geschädigten. So habe der Hausarzt angegeben, dass für den Geschädigten aufgrund von Hand- und Rückensituation körperlich belastenden Tätigkeiten und administrative Tätigkeiten allenfalls drei Stunden/Tag möglich seien und ebenso Minijobs mit leichter körperlicher Belastung; die Psychotherapeutin sei zu dem Ergebnis gelangt, wegen vorhandener und nicht revisibler psychischer Beeinträchtigungen sei für den Zeitraum 2012 bis 31.12.2016 von einer anhaltenden Erwerbsunfähigkeit auszugehen.

 

Das OLG habe sich damit bei der Beurteilung der Arbeitsfähigkeit „medizinische Sachkunde angemaßt“, deren Voraussetzungen es den Parteien nicht offengelegt habe; es sei das rechtliche Gehör verletzt worden, Art. 103 GG. Bei den vorgelegten ärztlichen Bescheinigungen handele es sich auch nicht - wie vom OLG vertreten – um „bloße Behauptungen“ der Klägerin, sondern um einen qualifizierten Sachvortrag zur Arbeitsfähigkeit des Geschädigten, weshalb das OLG nicht eine Arbeitsfähigkeit nicht hätte bejahen dürfen, ohne sich auf das Gutachten eines hinsichtlich der berührten medizinischen Bereiche fachärztlich qualifizierten Sachverständigen zu stützen. Hier wäre der vom Gericht zu beauftragende medizinische Sachverständige zu befragen gewesen, ob die vom Kläger ausgeübten Tätigkeiten aus medizinischer Sicht gegen die Annahme einer eingeschränkten Arbeitsfähigkeit des Geschädigten sprechen. Die Angaben des Geschädigten zu diesen Tätigkeiten, Vermietung einer Ferienwohnung zusammen mit seiner Frau bei einem wöchentlichen Zeitaufwand von zwei Stunden, die Öffnung einer vom Geschädigten betriebenen Galerie lediglich an Wochenenden, seien (was die Nichtzulassungsbeschwerde gerügt hatte) vom OLG übergangen worden und wären in dem vorgenannten Zusammenhang zu berücksichtigen. Der Schluss des OLG von der Ausübung einer geringfügigen Tätigkeit für die Caritas auf eine Arbeitsfähigkeit bis zum Umfang einer Vollbeschäftigung sei - unabhängig von der dem OLG fehlenden medizinischen Sachkunde -  auf der Grundlage der vom OLG getroffenen Feststellungen auch nicht nachvollziehbar, wobei auch hier das OLG nicht auf den Einwand der Klägerin eingegangen sei, der Geschädigte sei selbst von dieser Tätigkeit körperlich und psychisch überfordert gewesen.

 

 

Zudem sei auch die Auffassung des OLG unzutreffend, dass im Falle der Feststellung unzureichender Erwerbsbemühungen durch den Geschädigten, sich dessen Anspruch (und damit der Anspruch der Dienstherrin aus übergegangenen Recht) nicht beziffern ließe. Es seien hier die erzielbaren (fiktiven) Einkünfte auf den (unter Beachtung der Darlegungs- und Beweislast des Anspruchsstellers festzustellenden) Verdienstausfallschaden anzurechnen. Entsprechend der Darlegungslast zum Obliegenheitsverstoß sei auch die Höhe der fiktiven Einkünfte bei hinreichenden Erwerbsbemühungen des Geschädigten grundsätzlich vom Schädiger darzulegen (BGH, Urteil vom 24.01.2023 - VI ZR 152/21 -).


Berufung: Zur Erheblichkeit eines Verstoßes gegen das rechtliches Gehör zum Hinweisbeschluss (§ 522 PO)

BGH, Beschluss vom 28.09.2021 - VI ZR 946/20 -

Die Klägerin machte Ansprüche wegen einer ärztlichen Fehlbehandlung gegen die Beklagte geltend. Die Klage wurde teilweise abgewiesen. Insoweit legte die Klägerin Berufung zum Kammergericht (KG) ein. Dieses erließ einen Hinweisbeschluss nach § 522 ZPO, mit dem es die Klägerin auf die Absicht hinwies, die Berufung durch einstimmigen Beschluss als unbegründet zurückzuweisen, begründete dies und gewährte der Klägerin eine Frist zur Stellungnahme. Der Prozessbevollmächtigte beantragte während der laufenden Frist mit Schriftsatz vom 25.05.2020 (stillschweigende) Fristverlängerung mit der Begründung einer Arbeitsüberlastung auf den 06.07.2020. Dieser am 25.05.2020 bei dem KG eingegangene Schriftsatz wurde erst am 11.06.2020 dem Senat vorgelegt, der bereits mit Beschluss vom 10.06.2020 die Berufung zurückgewiesen hatte.

 

Auf die von der Klägerin eingelegte Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH wurde der Beschluss des KG vom 10.06.2020 aufgehoben und die Sache zur erneuten Verhandlung an das KG zurückverwiesen.

 

Das KG habe unter Verletzung des rechtlichen Gehörs den Fristverlängerungsantrag nicht zur Kenntnis genommen und die Berufung zurückgewiesen habe. Dabei sei unbeachtlich, dass die Geschäftsstelle des KG dem Senat den Schriftsatz erst verspätet vorgelegt habe, wie vom Senat der Klägerin mitgeteilt wurde.

 

Es könne für die Frage der Entscheidungserheblichkeit der Verletzung die Auffassung der Beschwerdeerwiderung auf sich beruhen, ob der erkennende Senat des KG die Fristverlängerung hätte gewähren müssen und dass in der im Rahmen der Nichtzulassungsbeschwerde vorgetragenen fiktiven Stellungnahme zum Hinweisbeschluss nichts vorgetragen worden sei,  was zur Zulassung der Berufung durch das KG relevant gewesen sei.

 

Eine gerichtliche Entscheidung beruhe auf der Verletzung rechtlichen Gehörs nach Art. 103 Abs. 1 GG, falls nicht ausgeschlossen werden könne, dass sie anders ausgefallen wäre, wenn das Vorbringen berücksichtigt worden wäre (BVerfG, Beschluss vom 19.10.1977 - 2 BvR 566/76 -). Davon sei hier auszugehen.

 

a)a Die nach § 522 Abs 2 S. 2 ZPO gesetzte Frist könne gem. § 224 Abs. 2 ZPO verlängert werden. Damit verwies das BVerfG zutreffend darauf, dass es für die Erheblichkeit der Verletzungshandlung iSv. Art- 103 GG nicht darauf ankommt, dass feststeht, dass die Frist verlängert wird, sondern nur darauf, dass die Möglichkeit bestanden habe. Wird mithin im Rahmen der Rüge der Verletzung des rechtlichen Gehörs geltend gemacht, dass die Frist verlängert worden wäre, handelt es sich um eine nach § 224 Abs. 2 ZPO gegebene Möglichkeit, die die Erheblichkeit der Nichtbeachtung des Verlängerungsantrages begründet.

 

Das alleine wäre vorliegend aber noch nicht ausreichend. Denn wenn die Frist tatsächlich verlängert worden wäre, bedeutet dies nicht, dass die Berufung nicht doch mit Beschluss zurückgewiesen worden wäre. Vorliegend vertrat der BGH die in der Sache zutreffende Ansicht, dass auch nicht ausgeschlossen werden könne, dass mit der jetzt vorgetragenen, nach Angaben der Klägerin bei verlängerter Frist erfolgten Stellungnahme eine andere Entscheidung durch das KG erfolgt wäre. Nicht vorausgesetzt würde, so der BGH, dass die hypothetischen Ausführungen in dieser fiktiven Stellungnahme „zulassungsrelevant“ seien, vielmehr sei der berufungsgerichtliche Prüfungsmaßstab (§ 529 ZPO) zugrunde zu legen. Danach könne vorliegend eine andere Entscheidung des KG nicht ausgeschlossen werden.

 

 

Auch der Grundsatz der Subsidiarität greife vorliegend nicht. Danach müsse eine Partei die nach Lage der Sache gegebenen prozessualen Möglichkeiten ausschöpfen, um eine Korrektur der geltend gemachten Grundrechtsverletzung zu verhindern. Wer dies versäume könne keinen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG geltend machen. Dies entspräche auch § 295 ZPO, wonach eine Partei eine Gehörsverletzung dann nicht mehr geltend machen könne, wenn sie dies ihr nach dem Erkennen des Verstoßes verbliebenen Möglichkeiten zu einer Äußerung nicht nutze (BGH, Urteil vom 18.11.2020 - VIII ZR 123/20 -; BVerfG, Beschluss vom 21.01.2020 - VI ZR 410/17 -). Der BGH wies darauf hin, dass eine Frist nicht „stillschweigend“ verlängert werden könne, da eine Fristverlängerung ausdrücklich ausgesprochen und mitgeteilt werden müsse (BGH, Beschluss vom 26.10.1989 - IVb 135/88 -). Der BGH geht dabei ersichtlich davon aus, dass trotz der Beantragung einer „stillschweigend“ zu gewährenden Fristverlängerung ein ordnungsgemäßer Verlängerungsantrag gestellt wurde, und geht daher folgerichtig darauf ein, ob es zur Pflicht der Partei gehört, sich nach einer gewährten Verlängerung zu erkundigen. Diese Erkundigungspflicht habe hier aber die Klägerin bis zum Zurückweisungsbeschluss vom 10. 06.2020 nicht gehabt. 


Wann muss Vortrag nach Schluss der mündlichen Verhandlung vom Gericht zwingend berücksichtigt werden ?

BGH, Beschluss vom 21.01.2020 - VI ZR 346/18 -

Das rechtliche Gehör und dessen Verletzung beschäftigt immer wieder die Instanzgerichte bis hin zum BGH. Da es sich bei der Gewährung rechtlichen Gehörs um einen verfassungsrechtlichen Anspruch der Partei vor Gericht handelt (Art. 103 GG), weshalb an sich die Gerichte dem eine erhebliche Bedeutung beimessen sollten.

 

Während das Landgericht der Klage auch weiteren materiellen und immateriellen Schadensersatz gegen eine Apothekerin nach fehlerhafter Herstellung eines Medikaments un Hinblick auf weiteren Huashaltsführungsschaden des Klägers statt gab und das Begehren auf weiteres Schmerzensgeld abwies, hat das Berufungsgericht (OLG Stuttgart) auf die Berufung des Klägers  diesem ein weiteres Schmerzensgeld zugesprochen und auf die Anschlußberufung der Beklagten hin den Anspruch auf den weiteren Haushaltsführungsschaden abgewiesen. Der vom Kläger erhobenen Nichtzulassungsbeschwerde half der BGH im Hinblick auf den Haushaltsführungsschaden durch Aufhebung des Berufungsurteils und Zurückverweisung ab.

 

Die Abänderung der landgerichtlichen Entscheidung durch Abweisung des Begehrens auf den Haushaltsführungsschaden habe das OLG damit begründet, dass der Kläger auf einen Hinweis des Senats des OLG (im Verhandlungstermin, auf dem das Urteil ergibt) nicht vorgetragen habe, welche Zeiten der Tätigkeit seiner Lebensgefährtin er für seine Pflege und Betreuung und in Abgrenzung dazu, welche Zeiten er für die Haushaltsführung geltend mache. Erst nach der mündlichen Verhandlung sei Vortrag dazu erfolgt, was verspätet sei, wobei der Kläger es auch unterlassen habe, nach dem Hinweis im Termin einen Schriftsatznachlass gem. § 239 Abs. 5 ZPO zum ergänzenden Vortrag zu dem Hinweis zu stellen. Von daher sei auch nach dem verspäteten Vortrag die mündliche Verhandlung nicht wiederzueröffnen.

 

Diese Nichtberücksichtigung verstößt nach Auffassung des BGH vorliegend gegen die Gewährung rechtlichen Gehörs. Art. 103 Abs. 1 GG. Das rechtliche Gehör würde verletzt, wenn Vortrag unberücksichtigt bleibe, ohne dass dies im Prozessrecht eine Stütze finde. Dieser Fall sei vorliegend gegeben.

 

Eine in erster Instanz siegreiche Partei dürfe darauf vertrauen,  vom Berufungsgericht einen Hinweis zu erhalten, wenn dieses in einem entscheidungserheblichen Punkt der Beurteilung der Vorinstanz nicht folgen will. Grundsätzlich habe der Hinweis so rechtzeitig zu erfolgen, dass die betroffene Partei noch vor dem Termin zur mündlichen Verhandlung darauf reagieren könne, § 139 Abs. 4 ZPO.  Würde  - wie hier – der Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung erfolgen, so müsse der Partei genügend Gelegenheit gegeben werden, darauf zu reagieren. Sei offensichtlich, dass die Partei in der mündlichen Verhandlung nicht reagieren könne, so müsse das Gericht entweder in das schriftliche Verfahren überleiten oder (auch ohne entsprechendne Antrag auf Schriftsatznachlass) vertagen, um Gelegenheit zur Stellungnahme zu gewähren.  

 

Gegen diese Pflichten habe das OLG verstoßen. Der Hinweis sei erst in der Berufungsverhandlung erteilt worden. Diese sei geschlossen worden, obwohl dem Kläger wegen des mit dem Hinweis verbundenen Rechercheaufwandes eine sofortige Erklärung nicht möglich gewesen sei. Wegen dieses Verfahrensfehlers sei das OLG verpflichtet gewesen, sich mit dem Vortrag des Klägers in dem nicht nachgelassenen Schriftsatz auseinanderzusetzen, was nicht stattfand.

 

Etwas anderes ergäbe sich auch nicht aus dem Umstand, dass der Kläger es verabsäumte, Schriftsatznachlass zu beantragen (s.o.; BGH, Beschlüsse vom 04.07.2013 - V ZR 151/12 - und vom 18.99.2006 - II ZR 10/05 -).

 

Ebenfalls sei der Umstand nicht durchgreifend, dass der Hinweis durch das OLG bereits erstinstanzlich (als auch im Berufungsverfahren) den Einwand erhoben habe, daß die Tätigkeit der Lebensgefährtin nicht zeitgleich der Haushaltsführung und der Pflege des Klägers gedient habem könne. Diese Hinweise des Gegners müssen den Kläger nicht notwendig zu der Annahme veranlassen, dem würde das Berufungsgericht folgen und damit eine andere Rechtsansicht als das Landgericht vertreten, weshalb vorsorglich der eigene Vortrag zu ergänzen sei (BGH, Beschluss vom 21.01.2016 - V ZR 183/15 -).

 

 

Der Gehörsverstoß sei auch erheblich. Der Kläger habe nach Schluss der mündlichen Verhandlung zu dem Hinweis weitergehend vorgetragen und es könne nicht ausgeschlossen werden, dass das OLG über den Anspruch betreffend Ersatz des Haushaltsführungsschadens bei Berücksichtigung desselben anders als geschehen entschieden hätte. 


Rechtzeitiger Hinweis auf vom Erstgericht abweichende Auffassung durch Berufungsgericht

BAG, Beschluss vom 28.08.2019 - 5 AZN 381/19 -

Das rechtliche Gehör (Art. 103 GG) ist ein Grundpfeiler der Rechtsordnung. Es dient einem fairen Verfahren. Seine Verletzung führt notwendig dazu, dass ein Urteil aufzuheben ist (und der Rechtstreit an das zuvor befasste Gericht zurückverweisen wird), wenn dessen Entscheidung auf der Verletzung rechtlichen Gehörs beruht. Und immer wieder werden Urteile von Instanz- und Obergerichten veröffentlicht, die gerade dies thematisieren.

 

So auch vorliegend. Das LAG Berlin-Brandenburg hatte darüber zu entscheiden, ob das beklagte Land dem schwerbehinderten Kläger Vergütung für den Zeitraum Dezember 2016 bis Mai 2017 zu zahlen hatte, was mit der Begründung eines Annahmeverzugs des Klägers unterlassen wurde. Dabei war zu klären, ob der Kläger für die vereinbarte Vollzeittätigkeit in der Datenverarbeitung dauerhaft krankheitsbedingt leistungsunfähig war und daher ein Annahmeverzug nach § 297 BGB ausgeschlossen war. Das Arbeitsgericht hatte die Klageabgewiesen; das LAG hatte ihr im Wesentlichen stattgegeben. Dabei negierte es, anders als noch das Arbeitsgericht, eine ausreichende Indizwirkung von drei vom beklagten Land vorgelegten vertrauensärztlichen Stellungsnahmen (eine vor, eine während und eine nach dem streitgegenständlichem Zeitraum) , die für den fraglichen Zeitraum eine Leistungsunfähigkeit des Klägers bejahten.

 

Nach Ansicht des BAG hatte das LAG deshalb gegen den Anspruch des beklagten Landes auf rechtliches Gehör verstoßen, da es einen gebotenen Hinweis auf seine vom Arbeitsgericht abweichende Auffassung nicht rechtzeitig gegeben und damit dem beklagten Land die Möglichkeit abgeschnitten habe, dazu mit erläuterndem oder ergänzenden Sachvortrag zu reagieren.

 

Würdige ein Gericht einen Sachverhalt oder Vorbringen in einer Weise, mit der ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter nach dem bisherigen Verfahrensverlauf nicht rechnen müsse, verstoße das Gericht elementar gegen seine Hinweispflicht nach § 139 Abs. 1 ZPO und damit das Gebot des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 GG, wenn es nicht darauf hinwirke, dass sich die Partei rechtzeitig und  vollständig über alle erheblichen Tatsachen erklärt und gegebenenfalls ergänzt und Beweismittel benennt. Deshalb dürfe ein Berufungsbeklagter grundsätzlich darauf vertrauen, dass ihm das Berufungsgericht einen Hinweis nach § 139 ZPO erteilt, wenn es von der Beweiswürdigung des Erstgerichts abweichen wolle, wobei er einen Anspruch darauf habe, dies so rechtzeitig vor einem Termin zu erfahren, dass er noch rechtzeitig vor dem Termin darauf reagieren könne (BVerfG, Beschluss vom 01.08.2017 - 2 BvR 3068/14 -).

 

Diese Grundsätze zur Beweiswürdigung würden auch dann gelten, wenn (wie hier) das Erstgericht sich vom Arbeitgeber zu eigen gemachte ärztliche Stellungnahmen als ausreichend ansehe, ein den Annahmeverzug ausschließendes Unvermögen des Arbeitnehmers iSd. § 297 BGB zu indizieren. Das sei vom LAG verkannt worden.

 

Der Berufung des Arbeitgebers auf eine Leistungsunfähigkeit iSd. § 297 BGB des Arbeitnehmers stelle sich als eine beachtliche Einwendung dar. Für diese sei er darlegungs- und beweisbelastet (BAG, Urteil vom 22.08.2018 - 5 AZR 592/17 -). Ein Arbeitgeber habe regelmäßig keine eigenen näheren Kenntnisse über den Gesundheitszustand seines Arbeitnehmers, weshalb er seiner primären Darlegungslast durch Hinweis auf die Leistungsunfähigkeit hindeutende Umstände genüge. Deshalb genüge auch die Vorlage einer gutachterlichen Stellungnahme (so auch vom Betriebsarzt), wenn er sich diese zu eigen mache (BAG, Urteil vom 22.08.2018 aaO.).

 

Ob hier vorgelegte ärztliche Stellungnahmen als Privatgutachten zu qualifizieren seien, sei eine der Beweiswürdigung unterliegende tatrichterliche Wertung. Deshalb könne ein Brufungsbeklagter bei beabsichtigter anderweitiger Würdigung durch das Berufungsgericht darauf vertrauen, ihn gem. § 139 ZPO rechtzeitig einen rechtlichen Hinweis erteilt und ihm die Gründe für seine vom Erstgericht abweichende Würdigung mitteilt.

 

Das sei hier nicht erfolgt. Erstmals sei das beklagte Land im Rahmen der Berufungsverhandlung der Hinweis erteilt worden, die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen würden nach Ansicht der Berufungskammer kein Indiz für eine Leistungsunfähigkeit des Klägers darstellen. Dem beklagten Land sei damit die Möglichkeit genommen worden, zu einer Kernfrage des Rechtstreits (die das Arbeitsgericht noch zu seinen Gunsten beantwortete), der abweichenden Annahme des LAG entgegenzutreten. Da das beklagte Land auch nach dem Protokoll der Verhandlung eine Schriftsatzfrist zu den Hinweis erbat, habe das LAG auch nicht davon ausgehen dürfen, es wolle dazu keine weiteren Rechtsausführungen oder weiteren Vortrag halten.

 

 

Da das beklagte Land im Rahmen seiner Nichtzulassungsbeschwerde zum BAG dargelegt habe, mit welchen Erwägungen es auf einen rechtzeitigen Hinweis des LAG reagiert hätte, um dessen Bedenken gegen eine Indizwirkung zu zerstreuen, könne nicht ausgeschlossen werden, dass das LAG bei Kenntnis seine Ansicht geändert hätte und doch angenommen hätte, dass das beklagte Land seiner primären Darlegungslast genügte. In diesem Fall hätte das LAG zu prüfen gehabt, ob dem der Kläger ausreichend substantiiert entgegen getreten sei und ob – evtl. nach Beweisaufnahme – eine Leistungsunfähigkeit des Klägers vorlag oder nicht. 


Rechtliches Gehör nach Richterwechsel: Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung (auch im Rahmen des § 495a ZPO)

BVerfG, Beschluss vom 03.07.2019 - 1 BvR 2811/18 -

Es kommt leider häufig vor, dass der zuständige Richter in einer Instanz (teilweise mehrfach) wechselt. Dies kommt nicht nur vor, wenn es sich um Richter auf Probe handelt, die im Laufe des Verfahrens versetzt werden, sondern auch im übrigen. Die Krux dabei ist das von den Gerichten zu beachtende rechtliche Gehör, wie die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 03.07.2019 verdeutlicht.

 

Ausgangspunkt war ein Urteil des Amtsgerichts, in dem der Beschwerdeführer beim BVerfG Kläger war. Dort wurde vor der Richterin Dr. H. (da das BVerfG von der Richterin und nicht von der Richterin am Amts- oder Landgericht bzw. OLG spricht darf angenommen werden, dass es sich um eine Richterin auf Probe handelte) a, 19.07.2016 mündlich über die Klage verhandelt. Nach der mündlichen Verhandlung kam es offenbar zu einem Richterwechsel, da ein Beschluss zur Einholung eines ärztlichen Sachverständigengutachtens vom Richter am Landgericht (einen offenbar vom Landgericht an das Amtsgericht abgeordneten Richter) am 30.08.2016 verkündet wurde. Nach Vorlage des Gutachtens wurde mit Anhörung des Sachverständigen erneut am 26.01.2017 verhandelt, nunmehr vor der Richtern Dr. Gr. (offenbar wieder eine Richterin auf Probe). Diese gab mit Beschluss vom 01.12.2017 bekannt, dass sie gedenke im schriftlichen Verfahren nach § 495a ZPO ohne weitere mündliche Verhandlung ein Urteil erlassen und bis zum 28.12.2017 eingehende Schriftsätze berücksichtigen zu wollen. Mit Schriftsatz vom 28.12.2017 rügte der Beschwerdeführer die nach seiner Ansicht fehlende Kompetenz des ehedem beauftragten medizinischen Sachverständigen auf dem hier fraglichen Gebiet und wiederholte einen Antrag aus seinem Schriftsatz vom 30.11.2017, die mündliche Verhandlung wiederaufzunehmen und fortzusetzen. Durch Änderung des Geschäftsverteilungsplans des Amtsgerichts vom 28.03.2018 schied die Richterin Dr. Gr. aus und der Beschwerdeführer beantragte unter Hinweis auf § 156 ZPO mit Schriftsätzen vom 17.05. und 21.08.2018 die Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung und Anberaumung eines Termins zur mündlichen Verhandlung. Ohne erneute mündliche Verhandlung erließ nunmehr das Amtsgericht durch die Richterin Ga. Das vom Beschwerdeführer angegriffene Urteil und wies „auf Grund des Sachstands vom 28.12.2017“ die Klage ab. Gegen dieses Urteil erhob der Beschwerdeführer beim Amtsgericht die Anhörungsrüge gem. § 321a ZPO, da streitwertmäßig eine Berufung unzulässig war. Er rügte die fehlende Wiedereröffnung der mündlichen Verhandlung gem. § 156 ZPO und machte geltend, dass nach dem Richterwechsel jedenfalls erneut das Verfahren nach § 495a ZPO hätte angeordnet werden müssen. Die Rüge wurde vom Amtsgericht zurückgewiesen.

 

Hinweis: § 495a ZPO stellt es den Gerichten frei, im Falle eines Streitwertes von bis zu € 600,00 nicht mündlich zu verhandeln. Bei einem Antrag einer Partei auf mündliche Verhandlung ist aber auch hier mündlich zu verhandeln, § 495a S. 2 ZPO.

 

Diese Zurückweisung war, so das BVerfG, fehlerhaft; das Urteil habe den Kläger in seinem rechtlichen Gehör verletzt. Mit der Entscheidung über die Verfassungsbeschwerde über das Urteil durch das BVerfG würde  der Beschluss des Amtsgerichts zur Anhörungsrüge gegenstandslos.

 

Zwar folge aus Art.103 Abs. 1 GG nicht unmittelbar ein Anspruch auf eine mündliche Verhandlung, da es Sache des Gesetzgebers sei zu entscheiden, auf welche Weise rechtliches Gehör gewährt würde. Habe eine mündliche Verhandlung aber nach dem Gesetz stattzufinden, wie des in den Fällen des § 495a S. 2 ZPO auf Antrag einer Partei der Fall sei, begründe dies einen Anspruch auf Durchführung derselben bei einem entsprechenden Antrag. Nach § 128 Abs. 1 ZPO habe die mündliche Verhandlung „vor dem erkennenden Gericht“ zu erfolgen. § 309 ZPO bestimme, dass das Urteil von den Richtern zu fällen sei, welche der dem Urteil zugrunde liegenden Verhandlung beigewohnt hätten, wobei § 156 Abs. 2 Nr. 3 ZPO ergänzend bestimme, dass – wenn zwischen mündlicher Verhandlung und der Beratung und Abstimmung ein Richter ausscheide, auch ohne Antrag die mündliche Verhandlung wiederzueröffnen ist. Die mündliche Verhandlung müsse daher nicht nur vor dem „erkennenden Gericht“, sondern vor dem Richter (bzw. Richtern) stattfinden, der/die das Urteil fällt/fällen.

 

Dagegen sei vorliegend verstoßen worden. Die Richterin Ga. hätte (wie auch vom Beschwerdeführer beantragt) vor Erlass des Urteils noch einmal mündlich verhandeln müssen. Ihr ohne mündliche Verhandlung ergangenes Urteil verletzte daher das rechtliche Gehör des Beschwerdeführers.

 

 

Erfolgreich ist die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs aber nur dann, wenn das Urteil auf dem Gehörsverstoß beruht. Dies bejahte das BVerfG vorliegend. Bei einer zwingend gebotenen mündlichen Verhandlung, wie sie hier vom Beschwerdeführer gefordert wurde, könne in der Regel nicht ausgeschlossen werden, dass bei ihrer Durchführung eine andere Entscheidung ergangen wäre: Die mündliche Verhandlung habe  den gesamten Prozessstoff in prozess- und materiellrechtlicher Hinsicht zum Gegenstand und je nach Prozesslage, Verhalten der Gegenseite und Hinweisen des Gerichts könne dies zu weiterem Sachvortrag, Beweisanträgen und Prozesserklärungen führen, ohne dass dies im Einzelnen sicher vorhersehbar wäre. Es könne daher vorliegend dahinstehen, ob Art. 103 Abs. 1 GG, der sicherstellen soll, dass die Entscheidung frei von Verfahrensfehlern ergeht, noch im Hinblick auf die Auswahl des Sachverständigen verletzt sei (dazu BGH, Beschluss vom 31.05.2016 - VI ZR 305/15 -). 


Unterlassen der beantragten Anhörung des gerichtlich bestellten Sachverständigen

BGH, Beschluss vom 06.03.2019 - VII ZR 303/16 -

Der Beklagte wandte sich mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH gegen ein Urteil des OLG Frankfurt und rügte die Verletzung des rechtlichen Gehörs durch das OLG. Dem lag zugrunde, dass der Beklagte  eine Wohnungseigentumsanlage mit Tiefgarage errichtete und die klagende Wohnungseigentümergemeinschaft von ihm einen Kostenvorschuss für die Beseitigung eines Mangels des Tiefgaragenbodens begehrte. Die Klägerin hatte zunächst ein selbständiges Beweisverfahren durchgeführt, in dem der vom Gericht bestellte Sachverständige ein schriftliches Gutachten und drei schriftliche Ergänzungen vorlegte. Auf der Grundlage dieser Gutachten im Beweisverfahren gab das Landgericht der Klage statt. Die Berufung, in deren Rahmen die Beklagte die unterlassene, von ihm aber beantragte mündliche Anhörung des Sachverständigen rügte, wurde vom OLG ohne Anhörung des Sachverständigen zurückgewiesen.

 

Der BGH sah das rechtliche Gehör des Beklagten (Art. 103 GG) in entscheidungserheblicher Weise als verletzt an. Nicht nur verlange Art. 103 Abs. 1 GG, dass das Gericht die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis nehmen und in Erwägung zu ziehen habe, sondern auch, dass es erhebliche Beweisanträge berücksichtigt. Dieses Recht ergäbe sich bereits aus §§ 397, 402 ZPO und sei Teil des Grundrechts auf Gewährung rechtlichen Gehörs , womit eine Nichtberücksichtigung eines solchen Beweisangebots gegen Art. 103 Abs. 1 GG verstoße, wenn sie im Prozessrecht keine Stütze fände.

 

Im Berufungsverfahren habe der Beklagte bereits die Verletzung rechtlichen Gehörs durch das Landgericht gerügt, da trotz seines Antrags der Sachverständige nicht mündlich angehört worden sei, womit er ersichtlich an seinem entsprechenden Anhörungsantrag aus erster Instanz festgehalten habe. Weder habe das OLG diesen Antrag erwähnt noch ausgeführt, weshalb es den Sachverständigen nicht angehört habe. Es käme nicht darauf an, ob das Gericht noch Erläuterungsbedarf sähe oder zu erwarten sei, dass der Sachverständige seine bisherige Ansicht ändere, ebensowenig darauf, ob das Gutachten Mängel aufweise. Die Parteien hätten nach §§ 397, 402 ZPO einen Anspruch darauf, dem Sachverständigen Fragen zu stellen, die sie zur Aufklärung des Sachverhalts für wesentlich ansehen, wobei dieses Recht unabhängig von § 411 Abs. 3 ZPO (Möglichkeit des Gerichts, von sich aus den Sachverständigen zum Termin zu laden) bestünde. Auch sei hier kein Ausnahmefall ersichtlich, bei dem trotz Antrag von der Anhörung abgesehen werden könne (BGH, Urteil vom 29.10.2002 - VI ZR 353/01 -: Rechtsmissbrauch und Prozessverschleppung).

 

Das Urteil des OLG beruhe auch auf dem Verfahrensverstoß, da sich das OLG auf dieses Gutachten beziehe und nicht ausgeschlossen werden könne, dass es nach Anhörung des Sachverständigen zu einem anderen Ergebnis gekommen wäre.

 

 

Von daher wurde das Urteil aufgehoben und der Rechtsstreit an das OLG zurückverwiesen, welches nun den Sachverständigen anzuhören hat. Der BGH wies zudem drauf hin, dass die Feststellung der allgemein anerkannten Regeln der Technik vom Gericht regelmäßig nur aufgrund sachverständiger Beratung getroffen werden könne.


Überspannte Anforderungen zum Bestreiten mit Nichtwissen

BGH, Beschluss vom 29.11.2018 - I ZR 5/18 -

Das Bestreiten gehört zum Prozessrecht: Wird der von der Gegenseite geschildert Lebenssachverhalt nicht eingeräumt, muss er bestritten werden. Handelt es sich um Umstände, die sich der eigenen Wahrnehmung entziehen, genügt grundsätzlich ein Bestreiten mit Nichtwissen; ansonsten ist ein anderweitiger Lebenssachverhalt zu schildern. Häufig wird von Gerichten geltend gemacht, es ermangele an einem (ausreichenden) substantiierten Bestreiten mit der Folge, dass das Bestreiten als unzulässig angesehen wird und der gegnerische Vortrag als zugestanden gilt. Und häufig hat der BGH Veranlassung, die instanzgerichtliche Entscheidungen aufzuheben, wie auch im vorliegenden Fall, in dem das OLG München die Auffassung vertrat, die Beklagte sei einem klägerischen Vortrag (durch viele Reisen und Gespräche mit Verantwortlichen der E.B.V. und deren Muttergesellschaft zwischen Februar und August 2015 die Bereitschaft zur Investition geschaffen zu haben, auf Grund der die Klägerin von der Beklagten Marklercourtage begehrt) nicht mit substantiierten Vortrag entgegengetreten, weshalb es der Klage statt gab.

 

Der BGH hielt die Anforderung des OLG München für ein zulässiges Bestreiten mit Nichtwissen gemäß § 138 Abs. 4 ZPO für überzogen mit der Folge der Verletzung rechtlichen Gehörs gem. Art. 103 GG.  Die von der Klägerin behaupteten Tätigkeiten seien nicht Gegenstand eigener Wahrnehmungen der Beklagten gewesen. In diesem Fall würde die Erklärung mit Nichtwissen in ihrer Wirkung dem schlichten Bestreiten gleichstehen und würde die Zulässigkeit einer solchen Erklärung die Verpflichtung zum substantiierten Bestreiten ausschließen. Der eventuelle Versuch des Bestreitenden (wie hier der Beklagten, von einer aktiven Mitwirkung der Klägerin sei nichts zu spüren gewesen) führt selbst dann nicht zu einer Unbeachtlichkeit des zulässigen Bestreitens mit Nichtwissen, wenn die Behauptung ins Blaue hinein aufgestellt worden sei (bereits BGH, Urteil vom 07.07.1988 - III ZR 111/87 -). Das Verkennen dieser Grundlagen und die daraus sich ergebende Folge des Überspannens an eine Substantiierungsanforderung des Bestreitenden führt zur Verletzung Anspruchs auf rechtliches Gehör, da ein wirksames Bestreiten unberücksichtigt bleibe. Da hier nicht auszuschließen sei, dass bei Beachtung des Bestreitens die Entscheidung des OLG anders ausgefallen wäre, sei das Urteil aufzuheben und die Sache an das OLG zurückzuverweisen.

 

 

Der BGH weist darauf hin, dass nach §§ 296a Satz 2, 156 Abs. 2 Nr. 1 ZPO die Wiedereröffnung einer geschlossenen mündlichen Verhandlung vom erkennenden Gericht anzuordnen sei, wen es einen entscheidungserheblichen und rügbaren Verfahrensfehler, so insbesondere die Verletzung einer Hinweis- und Aufklärungspflicht nach § 139 ZPO oder eine Verletzung rechtlichen Gehörs feststelle.


Gerichtlicher Hinweis und Schriftsatzfrist oder Vertagung

BGH, Beschluss vom 11.04.2018 - VII ZR 177/17 -

Es ist (leider) nicht die Ausnahme sondern die Regel, dass Gerichte (Richter) unabhängig davon, ob es sich um einen Termin als frühen ersten Termin oder nach einem schriftlichen Vorverfahren, nach einem Richterwechsel oder im berufungsverfahren handelt, nicht vor dem jeweiligen Termin die Parteien auf nach ihrer Ansicht wesentliche Gesichtspunkte hinweisen, die offenbar übersehen wurden (Fall des § 139 ZPO), sondern erst im Termin. So auch hier:

 

Der Beklagte, selbst Rechtsanwalt, zahlte restlichen Werklohn in Höhe von € 37.424,58 nicht, wobei der Umfang de Auftrages zwischen den Parteien streitig war und eine Abnahme der Werkleistung durch den Beklagten nicht erfolgt war. Der Beklagte berief sich wegen seiner Ansicht nach mangelhafter Leistungen auf ein Zurückbehaltungsrecht. In der mündlichen Verhandlung wies das Landgericht den Beklagten darauf hin, dass sein Vortrag zu Mängeln und Gegenrechten bisher unzureichend und unsubstantiiert sei. Der beklagte beantragte nach diesem Hinweis keinen Schriftsatznachlass zum möglichen weiteren Vortrag auf den Hinweis. Das Landgericht gab mit einem am Schluss der mündlichen  verkündeten Urteil der Klage statt. Die dagegen vom Beklagten eingelegte Berufung wird das OLG mit Beschluss (nach entsprechenden Hinweis) gem. § 522 Abs. 2 ZPO zurück. Die Nichtzulassungsbeschwerde des Beklagten zum BGH war im Wesentlichen erfolgreich und führte zur Aufhebung des Beschlusses des OLG und Zurückverweisung des Rechtsstreits an das OLG.

 

Der Beklagte hatte sowohl noch im erstinstanzlichen Verfahren (allerdings nach Urteilsverkündung und vor dessen Zustellung) als auch im Berufungsverfahren in Ansehung des Hinweises des Landgerichts in der mündlichen Verhandlung ergänzend  vorgetragen. Das OLG wies diesen Vortrag nach § 531 Abs. 2 S. 1 ZPO zurück. Diese Zurückweisung, so der BGH, beruhe auf einer  unrichtigen Anwendung der Norm. Das Gebot der Gewährung rechtlichen Gehörs gebiete dem Berufungsgericht, Vortrag zuzulassen, wenn eine unzulängliche Verfahrensleitung oder Verletzung der richterlichen Hinweispflicht (§ 139 ZPO) das Ausbleiben von Vorbringen oder Beweisanträgen erstinstanzlich (mit) verhindert habe. Wird erstinstanzlich wesentlicher Vortrag einer Partei als unsubstantiiert zurückgewiesen oder  die Partei als beweisfällig angesehen, ohne dass ein erforderlicher Hinweis erfolgt sei, käme die Anwendung des § 531 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 ZPO in diesem Fall einer Verhinderung des Vortrages zu entscheidungserheblichen Punkten gleich  und damit einem Verstoß gegen das rechtliche Gehör nach Art. 103 GG.

 

Vorliegend sei das Landgericht seiner Hinweispflicht nach § 139 ZPO nicht ausreichend nachgekommen. Die Hinweise hätten grundsätzlich so rechtzeitig zu erfolgen, dass die Partei Gelegenheit habe, ihre Prozessführung darauf einzustellen, § 139 Abs. 4 ZPO. Bei einem Hinweis erst in der mündlichen Verhandlung und damit entgegen § 139 Abs. 4 ZPO  müsse der Partei genügend Zeit zur Reaktion gegeben werden. Kann sich die Partei ersichtlich im Termin nicht äußern, müsse das Gericht (geht es nichts ins schriftliche Verfahren über) auch ohne Antrag auf Schriftsatznachlass (der in § 139 Abs. 5 ZPO vorgesehen ist) die mündliche Verhandlung vertagen. Ein Unterlassen stellt sich als Verstoß gegen den Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 GG dar.  

 

 

Vorliegend beruhe die Entscheidung des OLG auch auf diesem Verfahrensfehler, da nicht auszuschließen ist, dass das OLG bei Beachtung des zunächst nach mündlicher Verhandlung und wiederholt im Berufungsverfahren erfolgte  Vortrages als Reaktion auf die Hinweise vom Landgericht in der Sache anders entschieden hätte.


Nichteinholung eines angebotenen Sachverständigengutachtens

BGH, Beschluss vom 09.01.2018 - VI ZR 106/17 -

 

 

Die Klägerin machte gegen den Beklagten nach kierferchirugischer und zahnärztlicher Behandlung Schadensersatz einschl. Schmerzensgeld und im Rahmen eines Feststellungsantrages  einen möglichen Zukunftsschaden geltend. Land- und Oberlandesgericht wiesen die Klage ab. Auf die Nichtzulassungsbeschwerde der Klägerin hob der BGH das Urteil des OLG auf und verwies den Rechtsstreit an das OLG zurück.

 

Die Klägerin hatte geltend u.a. gemacht, sie sie nicht genügend aufgeklärt worden- Mit den verwandten Implantaten sei sie nicht einverstanden gewesen und sie sei fehlerhaft behandelt worden, die Konstruktion sei zu schwer gewesen, weshalb sie sich immer wieder gelockert habe und herausgefallen sei.

 

Die Klägerin hatte dezidiert unter Beweisangebot auf Einholung eines Sachverständigengutachtens vorgetragen. Das OLG habe ausgeführt, die Ursache für das Herausfallen der Brücke könne nicht mehr festgestellt werden und der Umstand, dass nach einem Neuaufbau der Brücke diese nicht mehr herausfalle rechtfertige nicht die Annahme eines Behandlungsfehlers. Auch wenn das Modell der Brücke noch vorhanden sei, sei eine Überprüfung nicht mehr möglich. Es sei „gerichtsbekannt und durch den Senat als Fachsenat schon mehrfach durch Sachverständigengutachten festgestellt worden, dass bereits kurze Zeit nach Veränderung der Gebisssituation eine Überprüfung nicht mehr möglich sei“.  Es wäre Sache der Klägerin gewesen, vor Anfertigung einer neuen Brücke eine Beweissicherung des vorhandenen Zustandes vorzunehmen.

 

Das OLG habe Art und Umfang des von der Klägerin behaupteten Fehlers sowie die für ein Sachverständigengutachtens zur Verfügung stehenden Anknüpfungstatsachen allenfalls unzureichend zur Kenntnis genommen, jedenfalls nicht berücksichtigt. Damit läge eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör vor, da auf Umstände von zentraler Bedeutung nicht eingegangen worden sei. So sei nicht berücksichtigt worden, dass die Klägerin geltend gemacht habe, dass das gesamte Behandlungskonzept in seiner Grundlage fehlerhaft gewesen sei, insbesondere da die Implantate die verwendeten Aufbauten nicht hätten tragen können. Zudem sei nicht nur das Modell der Oberkieferprothese noch vorhanden, sondern auch Fotos von der vom Beklagten verwandten Zahnersatzkonstruktion.

 

Als schwerwiegend sah es der BGH an, dass das OLG keine eigene Sachkunde ausgewiesen (also dargelegt) habe und darüber hinaus auch die Klägerin nicht darauf hingewiesen habe, dass es das beantragte Sachverständigengutachten aufgrund eigener Sachkunde für ungeeignet halte.

 

 

Aus den Urteilsgründen ergäbe sich fehlerhaft auch nicht, weshalb das OLG die Ansicht vertritt, nachträglich ließe sich ein Sachverständigengutachtens zu den Streitfragen nicht mehr erstellen.